Eine sichere Ostgrenze Rußlands als Schutz auch für Europa
von Dmitri Kossyrew,
politischer Beobachter der Russischen Informationsagentur Nowosti

 

Die Ostgrenze Rußlands ist in einem gewissen Sinne auch die Ostgrenze Europas. Und wenn die Grenze zu China, Afghanistan und so weiter nicht kontrolliert wird, dann sickern dort Drogen, Terroristen und illegale Immigranten nach Westeuropa durch. Die Ordnung, die an der Ost- und der Südostgrenze Rußlands herrscht, erlaubt dem Land, ruhig seine westliche Politik zu befolgen, die auf die Schaffung eines einheitlichen Europa ohne Trennlinien gerichtet ist.

Für Rußland selbst ist die Situation in seinem Südosten natürlich wichtiger, als für alle anderen. So ist das heutige, nie dagewesene Wirtschaftswachstum Rußlands  - die Zuwachsrate liegt per heute bei 7,2 Prozent und wird voraussichtlich im Jahresergebnis bei 5 bis 6 Prozent liegen -  auf seine sicherer gewordenen Grenzen zurückzuführen.

Zu den vielen wirtschaftlichen Ursachen des Zusammenbruchs der UdSSR gehörte nicht nur das Wettrüsten mit den USA, sondern auch die damalige Gefahr einer zusätzlichen Konfrontation mit China. Die Gefahr eines möglichen „Krieges an zwei Fronten” entstand in den 60er Jahren. War es da ein Zufall, daß gerade damals die tiefe Systemkrise der UdSSR offensichtlich wurde?

Der Ferne Osten, das sind 15 Millionen Einwohner, die auf dem langen engen bewohnbaren Landstreifen, der sich von Sibirien bis zum Pazifik hinzieht, leben. Ein paar hundert Kilometer nördlich von diesem Streifen entfernt, beginnen bereits die wegen des Dauerfrostbodens unbewohnbaren Gegenden. Die zugespitzten sowjetisch-chinesischen Beziehungen schufen somit eine Situation der äußersten Verwundbarkeit für alle östlichen Gebiete des Landes und erforderten immense Ausgaben. Der Verfasser dieser Zeilen konnte während des Dienstes in den Grenztruppen mit eigenen Augen die Betonanlagen auf freiem Feld und Panzerwege sehen, die ins Nichts führten, oder, genauer gesagt, zur chinesischen Grenze, wo sie abbrachen.

Aber in der Sowjetzeit war die südliche, mittelasiatische Grenze verhältnismäßig sicher, bis Moskau Ende der 70er Jahre die Gefahr, die von Afghanistan ausging, zu spüren bekam und dort einen langwährenden und mißlungenen Krieg begann. Die mittelasiatische Grenze erwies sich als strategisches Problem des jelzinschen Rußland. Die Hauptbedrohung ging von Taliban-Afghanistan aus, das auch die inneren Fehden in Mittelasien, darunter auch den Bürgerkrieg in Tadshikistan, beeinflußte.

Jelzins Glück bestand darin, daß sein Vorgänger, der letzte Chef der UdSSR, Michail Gorbatschow, zuvor die Basis für die Entspannung an der russisch-chinesischen Grenze geschaffen hatte. Die heutige Epoche des Zusammenwirkens und der Verständigung zwischen Moskau und Peking begann damit, daß die weitsichtigen Spitzenpolitiker Michail Gorbatschow und Deng Xiaoping in der Zeit der Studentenunruhen vom Frühjahr 1989 beschlossen, alles von Neuem zu beginnen. Moskau und Peking näherten sich nach dem Treffen in der chinesischen Hauptstadt immer mehr einander an. Der Anfang des neuen Jahrtausends war durch den Vertrag über gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit gekennzeichnet.

In seinem Interview für den Verfasser dieser Zeilen sagte Igor Rogatschow, ständiger Botschafter Rußlands in der VRCh in den 90er Jahren: „Rußland und China sind Nachbarn. Die Länge der gemeinsamen Grenze beträgt mehr als 4 200 Kilometer. Wir sind aufrichtig froh darüber, daß heute die Grenzfrage zwischen unseren Ländern praktisch gelöst worden ist: Die Abkommen von 1991 und 1994 fixierten juristisch 98 Prozent der gemeinsamen Grenze, deren Vermarkung 1999 abgeschlossen worden war. Wir hoffen, daß die Seiten auch für die beiden unabgestimmt gebliebene Abschnitte eine gegenseitig annehmbare Lösung finden werden.”

Diese Situation führte dazu, daß Rußland und China es vermochten, nicht einfach nur die Truppenstärke an der gemeinsamen Grenze abzubauen, sondern auch die Streitkräfte im allgemeinen zu reduzieren. Es sei auch darauf verwiesen, daß die russischen Truppen die Mongolei verließen, weil die Notwendigkeit ihrer dortigen Stationierung entfallen war. Diese Grenze gehört ebenfalls zu den ruhigen.

Es sollte nun das Problem des gebliebenen mittelasiatischen Teils der ehemaligen sowjetisch-chinesischen Grenze gelöst werden. Hier zeichnete sich aber ein verworreneres Bild ab. Es wurde durch eine bestimmte Verzögerung der chinesischen Politik in dieser Region vor dem Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan und die Entstehung der für Peking neuen Realitäten nach dem Ende dieses Krieges erschwert. Es handelt sich dabei um die Entstehung von Militärstützpunkten der USA in Mittelasien.

Bekanntlich gehören die Unerschlossenheit, Unentwickeltheit und die unzureichende Bevölkerungsdichte auf dem Großteil des Territoriums des Landes zu den Hauptproblemen der VR China. Das betrifft vor allem die westlichen Provinzen, darunter um Xinjiang, das an Mittelasien angrenzt. Die bestehenden Pläne zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser und benachbarten Territorien sahen mit den Ländern Mittelasiens gemeinsame Projekte der Energiewirtschaft und den Bau von Rohrleitungen für das Umpumpen von mittelasiatischem Erdöl und Erdgas nach Xinjiang vor. Die Führung der VRCh betrachtete aber diese Pläne als etwas sehr weit Entferntes, nicht zuletzt auch deshalb, weil in erster Linie Fragen der Sicherheit in dieser Zone gelöst werden mußten.

Afghanistan diente auch für moslemische Separatisten von „Ostturkestan”, d.h. Xinjiang, als rückwärtige Basis. Moskau sagte Peking noch vor dem 11. September 2001, daß die Ereignisse in Xinjiang in unmittelbarer Beziehung zu dem Geschehen in Afghanistan und Tschetschenien stünden. Damals betrachteten aber die chinesischen Kollegen die Taliban als einen zwar unangenehmen, aber sie nicht unmittelbar bedrohenden Faktor. Nach dem 11. September begannen die Chinesen die Taliban anders aufzufassen.

Dabei erwies sich Peking als sehr empfindsam gegenüber den neuen Realitäten in Zentralasien, einschließlich der dortigen amerikanischen Stützpunkte. Das Einverständnis Moskaus mit dieser Aktion wurde von Peking als Ausdruck der Schwäche Rußlands bewertet. Es waren viele Bemühungen erforderlich, von denen die Außenwelt sehr wenig wußte, um praktisch eine neue gemeinsame russisch-chinesische Politik in Mittel- und Zentralasien zu gestalten.

Diese neue Politik wurde um zwei Schlüsselprobleme herum aufgebaut. Und zwar: Sind die Amerikaner in Mittelasien notwendig, und trägt ihr Erscheinen dort einen antichinesischen Charakter?

Moskau hielt und hält die US-Stützpunkte für ein Mittel, in der Region die terroristische Bedrohung zu beseitigen. Rußland betrachtet die USA nicht als Gegner, sondern als Partner im Kampf gegen den Terror, als Partner, dessen Interessen in dieser Region in vieler Hinsicht mit unseren übereinstimmen.

Natürlich bestehen viele Fragen über die dortigen Absichten Amerikas  - und sie werden bestehen bleiben. Die USA nutzen heute bekanntlich die ehemaligen sowjetischen Fliegerstützpunkte Chanabad und Kokajdy in Usbekistan, Duschanbe und Kuljab in Tadshikistan sowie Manas in Kirgisien. In ihre Umrüstung wurde bereits viel Geld investiert. Die Verfügung über diese Schlüsselflugplätze wird es nötigenfalls ermöglichen, den Luftraum der ganzen zentralasiatischen Region zu kontrollieren.

Bekanntlich hatten die USA bereits lange vor dem Beginn der Antitalibankampagne Zentralasien als Zone ihrer geostrategischen Interessen erklärt. Vor allem deshalb, weil die Kaspisee-Region laut einer Reihe von Einschätzungen mit ihren Vorräten an Öl und Gas den zweiten Platz in der Welt einnimmt und nur dem Nahen Osten nachsteht. Ihre Vorräte an Kohlenwasserstoffen übertreffen auf das Zehnfache die Vorräte an diesem wertwollen Rohstoff in Alaska. Soweit ich mich erinnern kann, hat der Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, vor einigen Jahren mitgeteilt, daß die prospektierten Vorräte an Kohlenwasserstoffen auf dem Schelf der Kaspisee 6 bis 12 Mrd. Tonnen betragen, gemessen an den perspektivischen Vorräten nimmt Kasachstan den zweiten Platz in der Welt nach Saudi-Arabien ein. Dabei steht die Wirtschaftlichkeit der Erdölförderung auf der Kaspisee nur denen der rentabelsten Vorkommen des Persischen Golfs nach.

Die finanziellen und technologischen Möglichkeiten Rußlands für Investitionen in die Vorkommen der Region, besonders auf dem Meeresboden, sind auch heute noch äußerst beschränkt. Darum können diesbezüglich zwischen den beiden Ländern keine großen Widersprüche bestehen, besonders, wenn Amerika nicht versuchen wird, alle zukünftigen Rohrleitungen unter Umgehung des Territoriums Rußlands zu verlegen.

Dabei ist die schablonenhafteste Beschuldigung, die gegen die mittelasiatische Politik der USA erhoben wird, folgende: Ihr Hauptziel ist gar nicht Rußland, sondern China. Die Herstellung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Präsenz in Mittelasien ist eine „Umzingelung” Chinas vom Westen, die Möglichkeit für Amerika, die Entwicklungspläne der westlichen chinesischen Territorien und zugleich auch die terroristische antichinesische Tätigkeit in Xinjiang zu kontrollieren. Freilich haben die Erfahrungen der amerikanischen Unterstützung für die Taliban, die später ihre Aktvitäten nicht nur in die nördliche Richtung entwickelten, die USA vieles gelehrt.

Eine Antwort auf die meisten Fragen war die Beschleunigung des 2000 - 2001 bereits verlaufenden Prozesses der Herausbildung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit „SCO” durch die Bemühungen Moskaus und Pekings. Bis dahin wirkte die Organisation nur in Form der Jahresgipfeltreffen zu Sicherheitsfragen. Daran nahmen, außer der RF und der VR China, die Chefs Tadshikistans, Kirgisiens und Kasachstans teil. Heute gehört auch Usbekistan zur SCO. Insgesamt zählt sie sechs Mitglieder  - übrigens heißt die Organisation in der VR China nicht SCO, sondern die „Union von sechs Ländern”.

Will man die SCO mit einem Schiff vergleichen, so hat seine Kiellegung auf dem ersten Gipfeltreffen in Shanghai am 15. Juni 2001 stattgefunden, als die Chefs der sechs Länder den Beschluß über die Gründung der Organisation gefaßt haben. Heute, nach dem Moskauer Gipfeltreffen von 2003, kann man sagen, daß die Innenausstattung abgeschlossen worden und das Schiff startklar ist.

Es wird die Ansicht vertreten, daß die Organisation ab nächstem Januar mit voller Kraft zu arbeiten beginnen werde. In Bischkek in Kirgisien funktioniert bereits faktisch die Regionale Antiterrorstruktur „RATS”, die insbesondere in der nächsten Zeit den unmittelbaren Kampf gegen die Herstellung und den Transport von Drogen sowie die Zusammenarbeit auf der Ebene der Verteidigungsministerien aufnehmen wird. Im August sollen auf dem Territorium Kasachstans und Chinas Antiterrorübungen der SCO durchgeführt werden. Behandelt werden Projekte der wirtschaftlichen Entwicklung, von denen die ersten voraussichtlich beim Treffen der Regierungschefs der SCO-Mitgliedsstaaten im Frühherbst verlautbart werden. Jährlich finden Treffen der Premierminister sowie der Verteidigungs- und Wirtschaftsminister statt und werden Gipfeltreffen abgehalten.

Bemerkenswert dabei ist, daß nicht nur Moskau oder Peking, sondern auch die Staaten Mittelasiens praktisch einmütig den Standpunkt vertreten, daß allein amerikanische Militärstützpunkte auf ihrem Territorium für die Gewährleistung ihrer Sicherheit nicht ausreichen, und daß die SCO, die die Garantie der Sicherheit seitens der VR China und der RF bedeutet, als Ergänzung zur amerikanischen Präsenz notwendig ist.

Somit erhebt sich für Moskau in dieser Region, ebenso wie auch in allen anderen, nicht die Frage, ob es „mit Amerika gegen China” oder „mit China gegen die USA” auftreten solle. Eine unvorsichtige Unterstützung möglicher Konfrontationspläne der einen Seite gegen die andere hätte die russischen Interessen unmittelbar beeinträchtigen können. Diese Interessen sehen ganz anders aus: Zusammenarbeit mit China und den USA im Antiterrorkampf in Asien. Ebenso steht dazu auch Peking.

Keines der SCO-Mitglieder zeigt auch nur den geringsten Wunsch, eine abgekapselte Struktur zu schaffen, die für Außenstehende gesperrt ist. Einstmals war Mittelasien ein Teil und natürlich eine Zone des ausschließlichen Einflusses der UdSSR. Man könnte annehmen, daß die SCO heute eine Methode ist, in der Region eine Zone nun schon des gemeinsamen Einflusses der beiden Supermächte Rußland und China zu errichten. Die Globalisierung macht jedoch solche Strukturen sinnlos. Auch die Ideologie der SCO ist heute anders, nämlich eine Organisation zur Vereinigung von Mittelasien mit der Weltwirtschaft und Weltpolitik zu sein. Die SCO ist eine Konstruktion, die Moskau und Peking aktiv der „großen Acht”, der Nato und den USA für die Lösung der Probleme der Region anbieten. Dabei sollte aber niemand daran zweifeln, daß es unstrittig eine russisch-chinesische Konstruktion ist.

Dmitri Kossyrew  

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Dieses ist ein Artikel der
Weltnetzzeitschrift „Der Lotse”