Rußland verstehen -
Die unterschiedliche Entwicklung des Christentums in Ost und West im Kontext kulturhistorischer Probleme der Gegenwart

von Horst Beger

 

Vorwort

Aus Fjodor Tjutschews oft zitiertem Ausspruch von 1866: „Mit dem Verstand allein sei Rußland nicht zu begreifen, an Rußland müsse man einfach (d.h. mit dem Herzen) glauben”, spricht ja eine große Zuversicht hinsichtlich der Zukunft Rußlands. Am Ende des 20. Jahrhunderts wollen wir jedoch nicht nur glauben, sondern auch verstehen. Mein Thema lautet daher: „Rußland verstehen  - Die unterschiedliche Entwicklung des Christentums in Ost und West im Kontext kulturhistorischer Probleme der Gegenwart”.

Ein solcher Versuch kann nur symptomatisch sein und nicht alle Rätsel lösen. Manches, wie die Vorgeschichte Rußlands, kann ich im Rahmen des Themas nur andeuten. Anderes, wie die unterschiedliche Entwicklung des Christentums in Ost und West, werde ich ausführlicher behandeln, weil dies der Schlüssel für ein tieferes Verständnis Rußlands ist. Einiges, wie das, was ich zur russischen Baukunst und Ikone ausführe, wird auch bekannt sein. Da aber auch diese letztlich nur durch die Spezifik des russischen Christentums zu verstehen sind, werde ich darauf zumindest exemplarisch eingehen. Und weil auch das, was ich zur „Kulturologie” der russischen Gegenwart vortrage, teilweise unter christologischen Gesichtspunkten erfolgt, wird sich der eine oder andere fragen, ob Rußland nur christologisch zu verstehen ist. Ich denke, es ist nicht nur, aber auch nicht ohne die Spezifik des russischen Christentums zu verstehen. Vielleicht sehe ich das so, weil ich keiner Kirche angehöre und kein Historiker bin, sondern Architekt, und deshalb konstruktiv an das Thema herangehe.

Zum Thema Christologie möchte ich noch auf eine Antologie des Slavisten Wolfgang Kasack mit dem Titel: „Christus in der russischen Literatur” hinweisen, die gerade erschienen ist. In meinen Ausführungen kann ich auf das mehr literarische Thema des „russischen Christus” nicht weiter eingehen, aber die Tatsache, daß das Christus-Thema in keinem Land so tief in der Literatur verwurzelt ist wie in Rußland, spricht ja für sich.

Meine Ausführungen sind in gekürzter Form, d. h., ohne den Kontext zu den kulturhistorischen Problemen der Gegenwart, in einem Sonderheft über Rußland erschienen und waren der Anlaß, mich näher mit dem Thema zu befassen. Als Titelbild habe ich eine Farbkopie des „Täufers” von Alexej von Jawlensky aus dem Jahre 1936 gewählt, auf das ich in meinen Ausführungen kurz zu sprechen komme.

Essen, Oktober 2000
Horst Beger, Architekt

 

 

Rußland verstehen -
Die unterschiedliche Entwicklung des Christentums in Ost und West im Kontext kulturhistorischer Probleme der Gegenwart

„Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben”, heißt es in Goethes „West-Östlichem Divan”. Bezogen auf Rußland ist damit ein Zeitraum abgesteckt, der weit in die Vorgeschichte des Landes reicht, die wie die Frühgeschichte vieler Völker im Dunkel der Schriftlosigkeit liegt. Nur die archäologischen Bodenfunde und Kunstwerke der Vergangenheit, die nachklingenden Mythen, Heldenlieder (Bylinen) und Legenden sowie die Landschaft und die Menschen selbst, wie sie auch heute noch zu erleben sind, können das Dunkel aufhellen.

So haben Ausgrabungen in den fruchtbaren Schwarzerdegebieten des Landes zwischen Dnjestr und fernem Jenissey ergeben, daß neben Viehzucht, Jagd und Fischfang schon seit mehr als dreitausend Jahren ununterbrochen Getreide angebaut wurde (Gerste, Roggen und Weizen). Der „russische” Landmann, russisch: krestjanin (Kreuzträger) ist also viel älter als die slavischen Volksstämme, die sich erst nach der Zeitenwende allmählich in den Waldgebieten westlich des Urals ausbreiten und die vorausgegangenen Völker verdrängen oder sich mit ihnen verbinden. In dieser vorchristlichen Zeit hat auch eine russische Sagengestalt wie Mikula Seljaninowitsch seine Wurzeln, der einen Pflug führte, den fünf Männer nicht aufzurichten vermochten, und dessen Stute „im stillen Gang” kein Streitross folgen konnte. In seiner Geschichte vom „Ursprung Rußlands” bezeichnet Herman von Skerst diese „Völkerwiege” Rußlands daher als „Geschichte einer Erdenlandschaft”.

„Dies sind die Erzählungen von den vergangenen Tagen, woher das russische Land seinen Anfang nahm”, so beginnt die älteste russische Chronik, die sogenannte „Nestor-Chronik” aus dem Jahre 1110. Und der Schreiber berichtet, daß bereits der Urapostel Andreas, der „Erstberufene”, das Christentum nach „Rußland” gebracht habe. Von der Stadt Cherson auf der Krim sei der Apostel bei seinen Missionsreisen den Dnjepr aufwärts bis zum späteren Kiew und Nowgorod gekommen und habe das Land gesegnet. Der Bezug der Chronik auf den erstberufenen Jünger Andreas weist darauf hin, daß das Christentum in Rußland nicht erst nach der Staatsgründung in Kiew eingeführt wurde, sondern als urchristlicher Strom schon lange vorhanden war und weiter wirkte. Denn der Apostel Andreas des Johannes-Evangeliums war nicht nur der erstberufene Jünger des Jesus Christus, sondern als Jünger Johannes des Täufers war er auch Zeuge der Jordantaufe von Jesus Christus. Emil Bock schreibt dazu in „Die drei Jahre” (Die Berufung der Jünger): „Was denn wohl eigentlich geschehen ist, als Johannes der Täufer zwei seiner Jünger (Andreas und der andere Jünger) auf das 'Lamm Gottes' aufmerksam machte. Daß diese auf den Hinweis des Johannes dem vorüberwandelnden Christus nachfolgen, ist unendlich viel mehr als ein äußerer Vorgang. In traumwandlerischer Größe des Bewußtseins tun die Johannesjünger etwas, wodurch ein Urvergangenheiten und ferne Zukünfte zusammenfassendes Urbild in die sichtbare Erscheinung tritt. ” Und an anderer Stelle weist Emil Bock auf die rätselhaften Worte des Christus in den Abschiedsreden hin: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch und euer höheres Bewußtsein erwählt (geheiligt)” (Joh. 15, 16).

„Die Geschehnisse der Evangelien und der Apostelgeschichte sowie des Urchristentums der ersten Jahrhunderte sind daher mehr als nur irdische Geschichte. In ihnen tritt Überirdisches in irdisches Geschehen ein; in ihnen wird der Himmel zur Erde und der Gott zum Menschen. Durch die irdisch sichtbaren Bilder und Phänomene hindurch ist deutlicher als in irgend einer anderen Zeit die himmlische Sphäre der Urbilder und Urphänomene zu erkennen” (Emil Bock: „Urchristentum”). Diese frohe Botschaft von der Menschwerdung Christi, der sich als „wahrer Mensch und wahrer Gott” mit der Erde verbunden hat, ist es, die der Apostel Andreas in die griechischen Gemeinden und nach. „Rußland” trägt.

„Petrus, der Bruder des Andreas, der die Kreuzigung Jesu nicht miterlebt hat, ist der erste Jünger, der die Auferstehung begreift. Und in Petrus und den anderen Jüngern tritt am Pfingstmorgen das Wunder der Einwohnung des Christus-Ich im Menschen-Ich zum ersten mal offen hervor. Dem freien Menschen-Ich, an dem alle Menschen gleichen Anteil haben können, ist damit der Weg bereitet. Und der Geist der Liebe, der in jedem Menschen den Bruder sieht, begibt sich in Gestalt der Apostel in die Welt. So trat durch den Pfingstimpuls des apostolischen Urchristentums der wahre Anti-Cäsarismus auf den Plan. Für Petrus war es daher folgerichtig, daß er sich zehn Jahre später mit apokalyptischem Mut in das Zentrum des Größenwahns und der Lebenslüge, nach Rom, begibt. Und zwanzig Jahre lang kann er dort in der Welt des Antichrist die österliche Sphäre von Galiläa in der römischen Gemeinde der Christen verbreiten, bis er selbst Opfer der Christenverfolgungen wird und den Märtyrertod am Kreuze stirbt” (Emil Bock: „Cäsaren und Apostel”).

„Rom ist nie ganz christlich geworden” (Herman von Skerst), und als das Christentum im Jahre 325 von Konstantin dem Großen zum Staats-Christentum von West- und Ost-Rom (Konstantinopel) erhoben wird, verlagert sich der Schwerpunkt des urchristlichen Stromes von Rom nach Byzanz und weiter nach Rußland, wo ihm im griechisch-östlichen Kulturbereich sein zukünftiger Boden bereitet war. In den Mysterienstätten der Demeter und in der Verehrung der bewahrenden 'Mutter Erde' war seit Urzeiten ein Empfinden für das kommende österliche Christentum geweckt worden. Und die 'Große Göttin', deren Segnungen die Menschen im Aufblick zum Himmel und in der dankbaren Verneigung vor der 'feuchten Mutter Erde' empfangen hatten, kam ihnen nun verklärt als Christusgebärerin mit der frohen Botschaft einer neuen Kindwerdung entgegen. Hier hat auch die besondere Verehrung der Gottesmutter-Ikonen mit dem Christuskind in der russischen Kirche ihre Wurzeln, die nach der offiziellen Übernahme des orthodoxen Christentums durch die Kiewer Rus in immer neuen regionalen Abwandlungen entstanden sind und als Inbegriff des frühen russischen Christentums bezeichnet werden können. Die bekannteste ist die Ikone der 'Gottesmutter von Wladimir' aus dem frühen 12. Jahrhundert, die heute in der Tretjakow-Galerie in Moskau hängt. Von besonderer Innigkeit ist bei ihr der Ausdruck, mit der sich die ernst blickende Gottesmutter dem Christuskind auf ihren Armen zuneigt und mit dem dieses seine Wange an die der Gottesmutter schmiegt und mit den Armen tröstend deren Hals umfängt. Darum wird dieser Ikonentypus auch als 'Gottesmutter der Barmherzigkeit' (russisch: umilenije) bezeichnet. Fast immer erscheint die Gottesmutter auf den russischen Ikonen in enger Beziehung zu Christus als dem Heil der Welt und dem Begründer eines neuen Kosmos, weshalb die russische Kirche im Gegensatz zur römischen Kirche auch die Dogmatisierung der Gottesmutter und jeden Marienkult ablehnt.

Rußland wurde zu dem, was es war und ist, weil es das Christentum über Byzanz und nicht im Zeichen Roms und der lateinischen Liturgie empfing. Die Russen gingen ihren eigenen Weg des christlichen Lebensverständnisses  - in klarer Abweisung alles dessen, was als römisches Erbe über das Papsttum und die katholische Kirche in die westliche Zivilisation eingang fand. Bis dahin, bis zur Übernahme des orthodoxen Christentums im Jahre 988, hatte sich das Kirchenchristentum in Ost und West schon weit auseinander entwickelt. Dies zeigte sich bereits bei der ersten großen Kirchenversammlung, dem 'Ersten ökumenischen Konzil von Nicäa', das Konstantin der Große im Jahre 325 bzw. 327 nach der Aufhebung der Christenverfolgungen einberuft, um die unterschiedlichen christlichen Auffassungen im sogenannten 'Arianischen Streit' um die Wesenheit des Christus durch einen Verwaltungsakt nach römischem Vorbild zu vereinheitlichen. Im Wissen um die Gegenwärtigkeit des Auferstandenen hatte Arius gemäß Johannes noch deutlich unterschieden zwischen dem Vatergott, der vor aller Zeit war, und den noch nie ein menschliches Auge geschaut hatte, und dem Sohnesgott, seinem eingeborenen Sohn, der der Führer zu diesem Schauen geworden ist. Bischof Alexander erklärte dem gegenüber, der Vatergott und der Sohnesgott seien von Ewigkeit her existent und eines Wesens, und die Schöpfung gehe ebenso auf den Vater zurück wie der Heilige Geist. Konstantin, der diesen Streit nicht verstand, glaubte daher, diesen in Bezug auf den Sohn durch die Einfügung des Wortes 'homousios'  - wesensgleich -  schlichten und beenden zu können und ließ das Glaubensbekenntnis mit dieser Einfügung beschließen, und wer sich weigerte wurde seines Amtes enthoben und verbannt. Als er jedoch sah, welche Verwirrung, Befremden und Unruhe das neue Glaubensbekenntnis von 325 in den Gemeinden auslöste, ließ er das Konzil 327 erneut zusammenkommen und das eingefügte Wort 'homousios' und die 'antiarianische Glaubensformel' widerrufen.

Die endgültige Dogmatisierung und Verkirchlichung des Christentums erfolgte jedoch erst durch Konstantins Nachfolger Kaiser Theodosius I. im 'Zweiten ökumenischen Konzil von Konstantinopel (381)', in dem er Konstantinopel zugleich zum 'neuen Rom' erklären ließ. Renate Riemeck hat das in ihrer 'Geschichte der Konzilien' ausführlich aufgezeigt. Damals wurde dem Artikel über den 'Heiligen Geist' folgende Ergänzung hinzugefügt: „der vom Vater ausgeht, der mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet und geehrt wird und durch die Propheten geredet hat. Wir glauben an eine heilige, allgemeine und apostolische Kirche. Auch bekennen wir eine heilige Taufe zur Vergebung der Sünden und warten auf die Auferstehung der Toten und auf ein Leben der zukünftigen Welt. ” Erst jetzt wird die Kirche 'heilig' (-gesprochen), 'allgemein' (-verbindlich) und 'apostolisch' (erklärt, d. h. sie sei geschichtlich fundierter Herkunft, und die Kirche verwalte die Gnadenmittel, auf die der Christ angewiesen sei). Der dritte Artikel mit seiner Aussage über den Heiligen Geist geht weit über das Glaubensbekenntnis von Nicäa hinaus. Und in dem Zusatz vom Heiligen Geist, „der mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet und geehrt wird”, deutet sich bereits die spätere Hinzufügung an, wonach der Heilige Geist vom Vater „und vom Sohne” (filioque) abstamme, wie das im 'Achten (ökumenischen) Konzil von Konstantinopel (869)' beschlossen wurde. Dieses Konzil wurde von der orthodoxen Kirche 879/80 widerrufen und führte zusammen mit dem Alleinvertretungsanspruch der römischen Kirche zur Trennung der orthodoxen Kirche von Rom.

Das Glaubensbekenntnis des Konzils von 381 ist jedoch das Bekenntnis aller christlichen Kirchen geblieben und wurde nach der Reformation auch in die protestantischen Glaubensordnungen aufgenommen. Allerdings sprechen nur die orthodoxen Kirchen den Text in der urspünglichen Fassung 'Pisteuomen' (wir glauben), während die westlichen Kirchen sich die lateinische Fassung 'Credo' (ich glaube) zu eigen gemacht haben. Darin drückt sich nicht nur die unterschiedliche Sprache aus; bis zum Ende des 2. Jahrhunderts war das Griechische die allgemeine Verkehrssprache im Römerreich. Die alten Christen predigten griechisch und wurden überall verstanden wohin sie kamen. Erst im 3. Jahrhundert setzte sich im Westteil des Imperiums die Latinisierung durch und der Osten wurde vom Westen nicht mehr mühelos verstanden. Die Sprachentrennung verstärkte auch die Unterschiede in den Auffassungen der kultischen Handlungen.

Im Osten wurden Taufe und 'Abendmahl' als ein Mysterium erlebt, das ewiges, göttliches Sein in das irdische Dasein einströmen läßt und es durchdringt (wobei es für die östliche Christenheit selbstverständlich ist, daß das Sakrament der Verwandlung von Brot und Wein allein durch den Auferstandenen hat eingesetzt werden können). Im Kultus des Westens dagegen waren die Sakramente kirchliche Gnadengaben, durch die der Mensch von Sünden gereinigt werden und die Gnade Gottes erfahren sollte  - Ungehorsamen wurde sie entzogen Das Denken der griechisch sprechenden Menschheit kreiste um das Geheimnis der Menschwerdung Christi: Herabkunft, Tod und Auferstehung des Gottessohnes. Dem entsprach und entspricht eine reich gegliederte Liturgie.

Im Westen dagegen sammelten sich die Gedanken der Christen um das Problem von Schuld und Vergebung. Der Priester bringt das Opfer Christi zur Darstellung und teilt das Abendmahl nur denen aus, die um Vergebung der Sünden gefleht haben. Die alles beherrschende Vorstellung von Vergehen und Strafe, Sühne und Gnadenerweis ist im römischen Rechtsdenken verwurzelt. Der Bischof von Rom genoß hohes Ansehen, weil er als Nachfolger des Petrus galt. Dem Alleinvertretungsanspruch des Abendlandes widersprachen die Christen des Morgenlandes jedoch von Anfang an, weil sie überzeugt sind, daß nicht nur Petrus, sondern auch den anderen Aposteln die Verkündigung des Evangeliums aufgetragen worden war und ist. Eine alleinige Lehrautorität innerhalb der Christenheit erkannten sie nie an” (Renate Riemeck).

Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen der römischen Kirche mit der orthodoxen Kirche im sogenannten 'filioque-Streit' zwischen Papst Nikolaus I. und dem Patriarchen Photios von Byzanz. Nikolaus I. war gestützt auf die gefälschten sogenannten 'Pseudoisidorischen Dekretalien', aus denen die politische Herrschaftsgewalt des Papstes über alle Reiche der Welt hervorgehen sollte, zu einem der politisch mächtigsten Päpste des 'christlichen' Abendlandes geworden. Zu seiner Lebenszeit vollzog sich in dem zerfallenden Kaiserreich Karls des Großen die 'Volkwerdung' der europäischen Völker und Ländergruppen: Frankreich, Italien und Deutschland in enger Bindung an Rom, die bis heute wie ein Bleigewicht auf dem 'christlichen' Abendland liegt. Aber so erfolgreich Nikolaus I. im Abendland war, so wenig konnte er sich gegenüber dem byzantinischen Kaiser und der orthodoxen Kirche durchsetzen. Als er von Photios Unterwerfung und Gehorsam forderte, stieß er gegen die Überlegenheit einer alten christlich-griechischen Kulturwelt, deren Bekämpfung zur Kirchenspaltung führte. Romanisiertes, dem alten römischen Rechtsdenken folgendes Kirchentum im Westen und eine in griechischer Geistigkeit verharrende Christenheit im Osten gingen seither entgegengesetzte Wege und fanden nicht wieder zueinander. „Eine europäische Einheit hat hat es daher nie gegeben, und der kirchliche Ost-West-Gegensatz in Europa ist älter als der politische” (Renate Riemeck: „Moskau und der Vatikan”).

Der Hauptgrund für die Ablehnung Photios' durch das von 'Römlingen' dominierte Achte ökumenische Konzil von Konstantinopel (869) war die von Photios vertretene 'Trichotömie', die Dreiheit des Menschenwesens, das aus Leib, Seele und Geist besteht. Diese Auffassung hängt eng mit dem ostkirchlichen Verständnis der Trinität zusammen und stützt sich auf die paulinische Lehre vom 'psychischen' und 'pneumatischen' Menschen, der bei den alten und neuen Christen zur Unterscheidung von Seele und Geist im menschlichen Wesen geführt hat. Diese 'Trichotomie' wurde 869 von Rom als 'Erfindung des Bösen' verworfen und die 'Dichotomie' als wahre Lehre postuliert, wonach der Mensch nur aus Leib und Seele bestehe. Dem Geist wird keine Selbständigkeit zugebilligt, er wird sozusagen 'abgeschafft' bzw. alleine dem 'apostolischen Dienstamt der Kirche und deren Lehrautorität, die von Christus eingesetzt sei', zugestanden, wie es in einer Erklärung der Kommission des Vatikan über 'Das Geheimnis der Kirche und der Eucharistie im Lichte der Geschehnisse der Heiligen Dreifaltigkeit' von 1996 heißt (L'Osservatore Romano). Die Gegner des Photios glaubten damit die Ostkirche entscheidend getroffen zu haben. In Wirklichkeit trafen sie das Denken des Abendlandes bis in unsere Zeit. Und was das 'Geheimnis' der römischen Kirche betrifft, so besteht dieses darin, 'daß sie dem Geist in der Wüste dient', wie Dostojewskij das in seiner 'Legende vom Großinqisitor' ausgedrückt hat.

Unter dem Patriarchen Photios hatte 860 auch die friedliche Slavenmission durch die griechischen Missionare Kyrill und Method begonnen, die auch das noch wenig bekannte Volk der 'Rhos', d. h. der Russen, in den Blick nahm. Im Gegensatz zu Rom, das die Missionierung des Abendlandes mit Feuer und Schwert betrieb und bis heute ein entsprechendes Trauma hinterlassen hat, erfolgte die Missionierung der griechischen Slavenmissionare Kyrill und Method ohne Blutvergießen und Gewaltanwendung durch die friedliche Verkündigung der frohen Botschaft. Und zwar erfolgte diese in deren eigener altslavischer Volkssprache, die von den Gläubigen im Gegensatz zur lateinischen Liturgie unmittelbar verstanden wurde. Die Offenbarung der slavischen Sakralsprache, der sogenannten 'Glagolica', die die Grundlage der kyrillischen Schriftsprache wurde, empfing Kyrill aus der 'Weisheit der Sophia' in der gleichen frühchristlichen Stadt Cherson auf der Krim, die schon Ausgangspunkt der 'Slavenmission' des Apostels Andreas war. Markus Osterrieder hat die Slavenmission der Brüder Kyrill und Method und ihre Nachwirkungen bis in die Gegenwart in seinem Buch „Sonnenkreuz und Lebensbaum  - Irland, der Schwarzmeer-Raum und die Christianisierung der europäischen Mitte” ausführlich beschrieben, bis in die Details der Sprachbildung und der Geisteskämpfe, die dort ausgetragen wurden und bis heute ausgetragen werden. Denn die Slavenmission der griechischen Kirche löste sofort entsprechende Machtkämpfe der römischen Kirche aus, nachdem diese in der spirituellen Auseinandersetzung gescheitert war. Und bis heute spielt der Vatikan um seiner kirchenpolitischen Ziele willen die slavischen Völker in kriegerischen Auseinandersetzungen gegen einander aus. Aus diesem Grunde wurden die Kreuzzüge gegen Byzanz geführt, und zu diesem Kreuzzugsdenken gehört die Ernennung der griechischen Slavenmissionare Kyrill und Method zu Schutzheiligen Europas durch den polnischen Papst Wojtyla im Jahre 1980 (ein Titel, der bis dahin dem heiligen Benedikt vorbehalten war).

Und genauso wie Rom von Anfang an seinen Anspruch auf Byzanz geltend gemacht hatte, bekämpfte Rom von Anfang an das russisch-orthodoxe Christentum nachdem dieses 988 Staatsreligion geworden war und Kiew 1037 einen eigenen Metropoliten erhalten hatte. Bereits 1075 versuchte Papst Gregor VII. die neue russisch-orthodoxe Kirche zu okupieren, indem er den Sohn des aus Kiew vertriebenen Izjaslav zum 'König von Rußland' ernannte und die Polen zu militärischer Hilfestellung für den Vertriebenen aufforderte, was jedoch mißlang. Das katholische Polen blieb aber auch in Zukunft der Hebel, mit dem Rom immer wieder versuchte, den Zugriff auf die russische Kirche zu bekommen. Die römischen Päpste unterstützten jeden Versuch katholischer Herrscher, sich auf Kosten orthodoxer Gebiete zu bereichern. Nachdem die Russen durch den ersten Tatareneinfall geschwächt waren, forderte Gregor IX. 1237 die Schweden zu einem "Kreuzzug" gegen die finnischen "Abtrünnigen" auf, die sich der orthodoxen Kirche angeschlossen hatten. Und nachdem die Schweden Finnland erobert hatten, rückten sie gemeinsam mit dem Deutschen Orden gegen Nowgorod vor. Die Stadtrepublik Nowgorod rief besorgt Alexander, den Sohn des Großfürsten von Wladimir-Susdalj zu Hilfe, der in der Schlacht an der Newa die Schweden besiegt und seitdem den Ruhmesnamen Alexander Newskij trägt. Und als 1242 der Deutsche Orden auf Nowgorod vorrückt, schlägt Alexander Newskij auch diesen auf dem Eise des Peipus-Sees entscheidend zurück, und der Versuch des Einbruches in die russisch-orthodoxe Kirche war dem Papsttum mißlungen. Allerdings mußte sich Rußland unter das Tatarenjoch begeben. Aber Alexander Newskij und das russische Volk entschieden sich lieber für die politische Demütigung unter den Tataren und die Freiheit der orthodoxen Kirche, als sich der 'weisheitsvollen Lenkung des apostolischen Stuhles zu unterwerfen'. Der Angriff der 'Lateiner' auf das durch den Tatareneinfall geschwächte Rußland mußte den Russen daher als besonders hinterhältig erscheinen.

Erst als 1584 mit Iwan IV., dem 'Furchtgebietenden', der letzte Rurikide auf dem Zarenthron gestorben und der achtjährige Zarewitch Dimitrij von dunklen Mächten umgebracht worden war, gelang es Rom durch die erneute Schwächung Rußlands im 'Zeitalter der Wirren' beinahe, den Zugriff auf die russische Kirche zu bekommen. Mit Hilfe der Jesuiten gelang es, den in Polen aufgetauchten falschen Dimitrij zum angeblich rechtmäßigen Zaren aufzubauen und diesen 1605 mit einem polnischen Heer auf den Zarenthron zu bringen, nachdem dieser sich katholisch hatte taufen lassen. Aber es gelang nicht, das orthodoxe Rußland in eine Kirchenunion mit Rom zu bringen, weil das 'rechtgläubige' russische Volk aufstand und den falschen Zaren erschlug. „Gerade die Zeit der großen Wirren hat im russischen Geschichtsbewußtsein die latente Abneigung gegen den römisch-katholischen Westen noch vertieft und ließ die Zeit der polnischen Invasion in einem noch ungünstigeren Licht erscheinen als die Epoche der Tataren-Invasion; hatten doch die Tataren niemals die orthodoxe Kirche der russischen Fürstentümer angetastet, während das Motiv der Unterwerfung der Orthodoxie unter Rom immer eine entscheidende Rolle spielt” (Ernst Benz: 'Geist und Leben der Ostkirche').

Seine Blütezeit hatte das russische Christentum jedoch vom 11. bis Mitte des 12. Jahrhunderts noch vor dem Tatareneinfall. Durch die ständigen Fehden der russischen Fürsten um die Vorherrschaft in Kiew und deren Auswirkungen auf die umliegende Bevölkerung verlagerte sich diese nach Nordosten in das fruchtbare Gebiet zwischen Oka und Wolga mit den neu entstehenden Städten Wladimir und Susdalj. Und Kiew büßte seine Vormachtstellung ein bevor die 'Mutter aller russischen Städte' durch eigene Zerstörung unterging. Während die Kunst und Architektur Kiews noch stark von Byzanz bestimmt war, entwickelte sich in Wladimir und Susdalj eine neue eigenständige russische Baukunst. Dieser russisch-'romanische' Baustil, an dem auch westliche Baumeister mitgewirkt haben mögen, zeichnet sich neben der schlichten Kreuzkuppelform der Kirchen vor allem durch die einzigartige plastische Gestaltung der Außenwände aus, wie bei der Dimitrij-Kathedrale in WIadimir. Auf allen vier Seiten der dreiteiligen Bogenfriese ist jeder Stein reliefartig mit einzelnen Fabeltierwesen (Löwen, Greife, Hirsche) und ornamentartig stilisierten Pflanzenmotiven gestaltet, wie sie als Motive schon in den Grabbeigaben der vorchristlichen Skythengräber gefunden wurden. Und inmitten jedes mittleren Bogenfeldes thront eine jugendliche psalmodierende König David-Gestalt mit segnend erhobener Hand als ob sie die vielen Tier- und Pflanzenwesen geordnet hätte. Urspünglich waren alle diese plastischen Gestaltungen vielfarbig bemalt wie bei einem griechischen Tempel, und der Fassaden-Goldgrund verband diese miteinander. Der Grundriss dieser Kreuzkuppelkirchen ist meist ein Quadrat bzw. als Außenraum ein Würfel, mit vier quadratischen Säulen in der Mitte, die den Fensterturm mit der Kuppel tragen und die Kreuzungspunkte (Vierung) des eingeschriebenen gleichschenkligen griechischen Kreuzes markieren. Im Osten des quadratischen Grundrisses sind die dreiteiligen Fassadenfelder halbkreisförmig ausgewölbt und bilden die Chornischen des Altarraumes, der in späterer Zeit durch die Bilderwand der Ikonostase abgegrenzt wird. Bei größeren Kirchen befinden sich weitere kleinere Kuppeln und Türme über dem dann entstehenden Doppelkreuz mit insgesamt fünf Kuppeln, wie bei der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale in Wladimir. Das Bild des Kristall-Würfels gleicher Länge, Breite und Höhe stammt aus der Offenbarung des Johannes über die kommende neue Stadt (Jerusalem) als Ziel und Erfüllung der Erdenentwicklung, dem auch die zwölf Fenster entsprechen.

Am eindrucksvollsten und ursprünglichsten ist diese frühchristliche Kunst vielleicht an der kleinen Mariä-Schutz-Kirche an dem Flüßchen Nerl in der Nähe von Susdalj zu erleben. Fürst Andrej Bogolubskij errichtete sie 1165 zum Gedächtnis an seinen gefallenen Sohn. „Leicht erhöht steht sie frei in einer Wiesenlandschaft mit wenigen Bäumen und leuchtet einem von weitem mit ihrer hellen Fassade und 'Kuppelflamme' gleich einem Kerzenstock entgegen.” Herman von Skerst vergleicht sie daher an Schönheit und Adel mit einem griechischem Tempel. Und tatsächlich kann man auch die russische 'Romanik' bewußtseinsmäßig als letzten Ausläufer der griechischen Kulturepoche bezeichnen, in der die Menschen noch in Harmonie mit dem Kosmos lebten.

Nach dem Tatareneinfall im 13. Jahrhundert versank diese jugendliche Schönheit, die noch Göttererbe war, in einer Art 'Kyffhäuser-Schlaf' wie in der deutschen Sage von Kaiser Barbarossa. Und die 'Gotteshelden', deren Zeit abgelaufen war, „wurden in den Felsenhöhlen der heiligen Berge eingeschlossen, bis ihr Wehklagen von Maria-Sophia, 'feuchte Mutter Erde', und dem Auferstandenen erhört wird, und die heiligen Berge sie wieder aus ihren Felsenhöhlen entlassen, um mit dem Gottesstreiter Michael gegen die 'Widerwahrheit' (russisch: kriwda) kämpfen zu können”, wie es in der entsprechenden Byline heißt.

An der Wiedergeburt des vom Tatarenjoch überschatteten Rußland hatten die russischen Einsiedlermönche, allen voran Sergej von Radonesch, entscheidenden Verdienst, dessen Schüler der Ikonenmaler Andrej Rubljow war. Und sein tiefsinnigstes und berühmtestes Bild, die Dreifaltigkeits-Ikone (russisch: Troiza) ist um 1420 'zum Lobe von Vater Sergej' entstanden. Das Neue in der Darstellung Rubljows besteht darin, daß er hundert Jahre vor den großen Renaissencemalern allein die menschliche Gestalt, die Handgebärde und das Antlitz sprechen läßt und auf alle Symbolik außer dem Kelchgefäß und der zarten Farbgebung verzichtet; ohne jedoch die 'umgekehrte Perspektive' der Ikone außeracht zu lassen, die auf den Betrachter verweist und nicht auf einen imagnären Fluchtpunkt wie in der Renaissence. Indem die Ikone ohne die Regeln des malerischen Realismus auskommt, nimmt sie Elemente der modernen Malerei des 20. Jahrhunderts vorweg, selbstverständlich ohne deswegen selbst zur Moderne zu zählen, „die in Bildern und Gegenbildern einen neuen Geistrealismus offenbart” (Manfred Krüger). Als Beispiel möchte ich den russischen Maler Alexej von Jawlensky nennen, der ab 1896 in Deutschland lebte und dessen 'Täufer' von 1936 man als moderne Ikone bezeichnen kann.

Das Wort 'Geist' oder 'geistig' ist heute im Russischen wahrscheinlich genau so verschwommen wie im Deutschen, und es stellt sich die Frage, wie man darüber wieder ins Gespräch kommen kann. Der russisch-tschuwaschische Dichter Gennadij Ajgi hat das 1989 in seinem Essay „Und: Für Malewitsch” wie folgt formuliert: „das künftige auferweckte Wort schwebt mir nicht als ein abstrakt-geistiges vor (das Wort 'geistig' ist heute in Rußland ein Surrogat, das bloß 'Beseeltheit' bedeutet), es schwebt mir auch nicht als ein pseudoexistentialistisches vor (als eines, das weiterhin, fast schon automatisch, den Menschen zerkleinert), vielmehr als ein tragisch-und-personal-religiöses Wort ... unter Wiederherstellung des Bezuges zum Kosmos-als-Haus und zum Leben-als-Brüderlichkeit”.

Damit sind wir in der Gegenwart angekommen und, um diese zu problematisieren, möchte ich auf einige Äußerungen des russischen Schriftstellers, Philosophen und Literaturwissenschaftlers Wladimir Kantor von 1997 eingehen, von dem ich eine Rezension seines Buches 'Ist ein europäischer Staat', „Rußland: sein schwieriger Weg in die Zivilisation”, gelesen habe. Der Titelsatz 'Ist ein europäischer Staat' stammt aus einem Regierungstraktat Katharinas der Großen und ist ja nicht falsch. Auch gegen Kantors Forderung nach „nüchterner, realistischer Selbsterkenntnis und vorurteilsfreier Analyse der russischen Geschichte” gibt es nichts einzuwenden. Die 'Erkenntnisse' und Ergebnisse der 'Analysen', zu denen er selbst kommt, sind jedoch teilweise fragwürdig und falsch.

Das beginnt mit der Behauptung, „Rußland gehöre seit der Annahme des Christentums im Jahre 988 aus Byzanz, also noch vor dem endgültigen Schisma der christlichen Kirchen, von seinen Anfängen her selbstverständlich zur westlichen europäischen Zivilisation. Und es sei die spezifische religiöse Tradition der orthodoxen Kirche, daß sie jede Weiterentwicklung des religiösen Lebens, etwa die ökumenischen Bestrebungen der westlichen Kirchen, ablehne”. Beides ist falsch. In meinen Ausführungen habe ich dargelegt, daß die Ostkirche und insbesondere die russische Kirche von Anfang an ihren eigenen Weg christlichen Selbstverständnisses gegangen ist und, daß die westlichen Kirchen vom ursprünglichen Christentum abgewichen sind. Zwar sind auch in der orthodoxen Kirche im Laufe ihrer fast zweitausendjährigen Geschichte manche Einseitigkeiten entstanden. Aber sie hat den Gegenstand des Christentums, die Menschwerdung Christi, der sich 'als wahrer Mensch und wahrer Gott' mit der Erde verbunden hat, nicht aus dem Auge verloren, wie die westlichen Kirchen. Diese sehen nur noch den menschlich gedachten Jesus und dessen Kreuzigung und mißbrauchen die Erlösungstat Christi für die Rechtfertigung ihrer Machtansprüche. Und was die angeblichen ökumenischen Bestrebungen der westlichen Kirchen betrifft, so ist dazu folgendes festzustellen: erstens spricht das Johannesevangelium, und nur dort wird dieser Anspruch erhoben, nur von der 'Einheit der Christen' und nicht von der Einheit der christlichen Kirchen. Und zweitens wird dieser Anspruch von der römischen Kirche bis heute mißbraucht, um den Alleinvertretungsanspruch der Kirche über alle Christen zu begründen. Im übrigen ist die russisch-orthodoxe Kirche seit vielen Jahren Mitglied im ökumenischen Weltkirchenrat, dem die römische Kirche wegen ihres Alleinvertretungsanspruches nicht angehört. Hier hat Wladimir Kantor schlecht recherchiert, und nicht 'vorurteilsfrei' analysiert.

Und wenn er behauptet, „das Tartarenjoch sei das größte Unglück in der russischen Geschichte gewesen und habe letztlich in der totalitären Macht der Bolschewiki seine Wiedergeburt erlebt”, so ist das auch nur die halbe Wahrheit. Denn erstens hat der Westen Rußland in diesem Kampf nicht nur allein gelassen, sondern auch noch versucht, die Schwächung Rußlands auszunutzen, um die russisch-orthodoxe Kirche zu okupieren; mit dem Hinweis auf Alexander Newskij habe ich das angedeutet. Zweitens stammt die dem Bolschewismus zugrunde liegende Ideologie nicht aus Kasan oder Moskau, sondern aus Trier und Wuppertal (Marx und Engels). Drittens hat die jahrhundertelange Isolierung Rußlands; die Wladimir Kantor beklagt, auch zu einer Vertiefung und Bewahrung des ursprünglichen Christentums für die Zukunft beigetragen; das habe ich mit dem Hinweis auf Sergej von Radonesch, Andrej Rubljow und Gennadij Ajgi angedeutet.

Auch das positivistische Europabild Wladimir Kantors von der angeblich „säkularisierten europäisch-christlichen Kultur” ist sehr fragwürdig. Die historische 'christlich'-abendländische Entwicklung habe ich ja versucht darzustellen. Dabei habe ich das Wort 'christlich' in Anführungszeichen gesetzt, weil dieser Begriff im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung Europas, insbesondere der Gegenwart, fragwürdig ist; zumindest sollte man dann christlich-katholisch oder west-christlich sagen oder die Bezeichnung 'christlich' ganz entfallen lassen, denn mit 'christlich' im ursprünglichen Sinne hat das alles wenig zu tun. So wurde das Europa der 'Verträge von Rom' 1957 von den katholischen Ländern Italien, Frankreich, Adenauer-Deutschland und den Benelux-Staaten gegründet, und in den Vorgesprächen saß der römische Kardinal Tisserant mit am Tisch. Der gleiche Kardinal ließ 1957 in Rom ein Frauenkloster nach orthodoxem Ritus errichten, in dem er ununterbrochen für die 'Einheit' der christlichen Kirchen beten läßt, das heißt, für die Unterwerfung der orthodoxen Kirchen unter den Alleinvertretungsanspruch der römischen Kirche. Daß die Gebete einer Kirche, „die dem Geist in der Wüste dient” (Dostojewskij), nicht erhört werden, ist nicht verwunderlich, trotzdem ist eine besondere Wachheit erforderlich. So umfassen die kürzlich vom deutschen Außenminister Fischer geäußerten Gedankenspiele über eine engere Zusammenarbeit der Länder 'Kerneuropas' genau diese katholischen Gründungsländer. Ein solcher Europa-Gedanke ist schon deswegen zum Scheitern verurteilt, weil er auf einem antquierten Europabild beruht.

Und was die Aufgaben Europas in der Nato betrifft, so muß man sich noch einmal deren ursprünglichen Ziele vergegenwärtigen, wie sie der erste Nato-Generalsekretär, der britische Lord Ismay (1952-57) formuliert hat (ich zitiere): „to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down”, das heißt, „die Amerikaner drinnen (in Europa), die Russsen draußen und die Deutschen klein zu halten. ” Daran hat sich nichts geändert. Nur, daß die Osterweiterung der Nato um die katholischen Länder Polen, Tschechien und Ungarn zugleich die Grenzlinie zwischen westlichem Christentum und orthodoxem Christentum, wie sie seit Jahrhunderten existiert, fortschreibt und neue Trennungslinien zwischen Ost und West errichtet (siehe Kopie einer Landkarte des amerikanischen Politologen Samuel Huntington in der Anlage, der diese als „Kulturgrenze und Konfliktlinie” bezeichnet). Von daher ist es verständlich, wenn Patriach Alexij II. in der Osterweiterung der Nato eine neue Form von 'Kreuzzug' der römischen Kirche gegen die russisch-orthodoxe Kirche sieht, denn wem soll die Osterweiterung der Nato außer der amerikanischen Rüstungsindustrie dienen?

In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß seit dem Pontfikat des polnischen Papstes Wojtyla enge geheimdiplomatische Beziehungen zwischen dem Vatikan und dem amerikanischen Geheimdienst CIA bestehen. Das begann bereits 1976 durch einen intensiven Briefwechsel von Zbigniew Brzezinski, dem aus Polen stammenden Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Jimmi Carter, mit dem damaligen Erzbischof Wojtyla. Ihren Höhepunkt erreichten diese Beziehungen während der Präsidentschaft von Ronald Reagan ab 1981, als der CIA-Direktor William Casey und der ehemalige stellvertretende CIA-Direktor Vernon Walters, beides 'überzeugte Katholiken', in den folgenden Jahren regelmäßig zu vertraulichen Gesprächen mit dem Papst zusammentrafen. Hauptthema war die finanzielle und logistische Unterstützung der polnischen Widerstandsbewegung 'Solidarnosc' durch die CIA. Ausführlich beschrieben wird das in dem Buch „Seine Heiligkeit Johannes Paul II. und die Geheimdiplomatie des Vatikan” von Carl Bernstein und Marco Politi (S. 306 ff.). Dort kann man auch nachlesen, daß Michail Gorbatschow und Papst Wojtyla 1991 einen Besuch des Papstes in Rußland besprochen hatten; „der Papst träumte von einer Reise zu den fernen Soloveckij-Inseln im Weißen Meer”, heißt es dort (S. 634). Einen Sinn für symbolische Gesten kann man dem Papst ja nicht absprechen. Der Besuch scheiterte jedoch am Widerstand von Patriarch Alexij II. Es hätte auch eine Entweihung der russischen Erde bedeutet, wenn der Stellvertreter einer Kirche, „die dem Geist in der Wüste dient”, ausgerechnet das 'Land der Sophia' betreten hätte.

Kommen wir zu den 'verfluchten Fragen', wie sie die russische Intelligencija schon immer gestellt hat: 'Wer sind wir?' und 'Was tun?'. Gurij Sudakow, der Gewinner des 1996 von Boris Jelzin ausgeschriebenen Wettbewerbs zur Formulierung einer 'nationalen Ideologie'; stellt in seiner Antwort dem „westlichen Individualismus und Materialismus” einen spezifisch russischen „Sinn für Gemeinschaft” und die „Seele der Orthodoxie” gegenüber. Bezogen auf die Vergangenheit mag das ja richtig sein, eine Antwort auf die Frage, was für die Zukunft zu tun ist, gibt das meines Erachtens nicht. Außerdem ist der angebliche westliche Individualismus viel egoistischer und konformistischer als er denkt, und der Materialismus ist ein allgemein menschliches Problem unserer Zeit. Und wenn er mit „Sinn für Gemeinschaft” und „Seele der Orthodoxie” ein spezifisch christliches Element meint, so ist das zeitgemäß gar nicht anders erfahrbar als individuell, auch für russische Seelen. Denn in dieser Beziehung ist das Christentum größer als alle Konfessionen und Nationen; auf die Differenzierungsnotwendigkeit von Leib, Seele und Geist habe ich hingewiesen. Eine gute Arbeitsanleitung gibt dazu der Philosoph Alexij Lossew. In seiner 'Russischen Philosophie' schreibt er: „Er gehe davon aus, daß die Hauptrichtung der modernen Philosophie keineswegs daran zweifeln lasse, daß ihr Thema das exakte Denken und Erkennen sei. Doch gebe es gute Gründe, auch die nicht-logische oder vor-logische Schicht des Erkennens und Denkens mit zu berücksichtigen, welche als 'verborgenes Wort' den Dingen immanent sei und sich durch den Menschen offenbare. ” Das würde ich als einen Erkenntnisweg bezeichnen, der das Geistige im Menschen mit dem Geistigen in der Welt verbinden möchte, wie Gennadij Ajgi das in dem zitierten Essay „Und: Für Malewitsch” vorschwebt. Lassen sie mich versuchen, das an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen.

Der Ruf der Französischen Revolution nach Freiheit Gleichheit und Brüderlichkeit ist unter anderem deswegen bis heute weitgehend unerfüllt geblieben, weil er nicht differenziert genug gesehen und verwirklicht wurde.

Am ehesten wurde noch die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz anerkannt und verwirklicht, da das Rechtsleben der Bereich ist, wo die Gleichheit ihre volle Berechtigung hat bzw. haben sollte, weil sie auf die anderen Bereiche ausstrahlt.

Im Geistesleben jedoch, wo es um die freie Entfaltung des Denkens und der Fähigkeiten des einzelnen Menschen geht, führt verordnete Gleichheit zu bevormundender Gleichmacherei. Das heißt, im Geistesleben ist die Freiheit voll berechtigt und erforderlich, damit Kunst, Kultur und Wissenschaft sich frei entfalten können.

Im Wirtschaftsleben hingegen führt absolute Freiheit und Willkür zu einem Sozialdarwinismus, in dem am Ende jeder des anderen Feind wird. Im Wirtschaftsleben müßte daher Brüderlichkeit walten, um allen Menschen einen gerechten Anteil an den Erzeugnissen und Gütern der Erde zukommen zu lassen. Die Brüderlichkeit ist jedoch der am schwersten zu verwirklichende Bereich, weil sie von den Menschen Altruismus und Uneigennützigkeit verlangt. Der Mensch ist jedoch von Natur aus, das heißt, als reines Naturwesen betrachtet, zunächst einmal mehr oder weniger egoistisch veranlagt und kann altruistisch nur durch Einsicht und Selbst-Erziehung werden. Das setzt voraus, daß wir den Menschen, daß wir uns selbst, nicht nur als Naturwesen, als endliches Wesen, betrachten und erkennen, sondern als ein Wesen, das teil hat an der Unendlichkeit mit Leib, Seele und Geist. Die soziale Frage ist daher auch eine Frage des christlichen Selbstverständnisses, und das ist nicht nur eine Frage des 'Glaubens', wie Fjodor Tjutschew meinte.

 

Anlage:

Kopie einer Landkarte des amerikanischen Politologen Samuel Huntington, der die Trennungslinie zwischen westlichem und orthodoxem Christentum als „Kulturgrenze und Konfliktlinie” bezeichnet:


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Dieses ist ein Artikel der
Weltnetzzeitschrift „Der Lotse”